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150 Jahre Zigarren aus Bünde
Geschichte der Zigarrenindustrie in Minden-Ravensberg

Die westfälische Zigarrenindustrie ballte sich im Norden des Regierungsbezirks Minden, in Minden-Ravensberg.

Minden-Ravensberg war lange Zeit das "Linnenländchen" des preußischen Staates. "Das Gewerbe und die Nahrung bestehet fürnehmlich im Spinnen und Leinewandweben, und hat der Höchste dem Lande solches Terrain gegeben, worinnen der Leinsamen besonders wohl geräth" schrieb 1745 der Mindener Kriegs- und Domänenrat Culemann. Um 1800 waren in Ravensberg 20.000 Spinnräder und 3.000 Webstühle in Betrieb. Der Wert der Jahresausfuhr von Garn und Leinen betrug 1. I 10:128 Taler. Träger des Gewerbes waren vor allem Heuerlinge und Kleinbauern.

Die Krise kam mit der Kontinentalsperre Napoleons. Nach 1820 machte die Baumwolle Konkurrenz. Die Überschwemmung mit billigem Maschinengarn aus Großbritannien und Irland führte schließlich zum Ruin. Hohe Geburtenraten, veränderte Agrarstrukturen und wiederholte Mißernten taten ein übriges. Nach 1840 herrschte bittere Armut in Minden-Ravensberg.

Den Mieter-Heuerlingen ging es am schlechtesten. "Kommst du des Morgens, so trinken sie Kaffee oder Zichorienwasser, so schwarz weg, ohne Milch, und essen ein Stück trocken Brot dazu. Des Mittags gibt's nur schwarzen Kaffee und schwarzes Brot, und neben dem Kaffeetopf steht leider oft der Brantweinbuddel. Daß da mancher nicht mit einem Abendgebet, sondern mit schwarzen Gedanken einschläft, läßt sich wohl denken", klagte ein Zeitgenosse. Die Kinder "rochen sauer"; Typhus und Fleckfieber grassierten.

1852 verdiente ein Feinspinner knapp 30 Pfennig pro Tag, 1800 hatte er das Doppelte verdient. 1.851 bezifferte der Herforder Landrat die Jahresausgaben einer 5-köpfigen Heuerlingsfamilie mit 134 Talern. Die Einnahmen aus der Arbeit am Spinnrad und als Tagelohn für die Hilfe auf dem Bauernhof betrugen 72 Taler. Zum Überleben fehlten somit 62 Taler!

Staatliche und private Initiativen versuchten der Verelendung entgegenzuwirken. Es kam zur Gründung von Spinn-, Web-, Näh-, Strick- und Strohflechtschulen sowie zur Bildung zahlreicher Hilfsvereine. "Die Not aber wuchs wie ein reißender Strom und war nicht aufzuhalten". Die hungernden Spinner und Weber reagierten. Wenige revoltierten, andere .verdingten sich als Gastarbeiter in Holland, viele wanderten aus, in die Staaten, ins Ruhrgebiet, in die Ostprovinzen Preußens.

Als das Garn- und Leinengewerbe schließlich verstädterte und in die Fabrikhallen von Bielefeld und Herford einzog, trat die Zigarre ihren Siegeszug in Minden-Ravensberg an.

Am 20.04.1826 eröffnete der Weinvertreter Theodor Rockoll in Minden eine "Tabak- und Zigarrenhandlung". Das Geschäft entwickelte sich zur Fabrik (1830), der Fabrikant brachte es bis zum Präsidenten der Handelskammer. 1830 gründeten die Vlothoer Kaufleute Busse und Hildebrandt eine Zigarrenfabrik, behielten aber ihren Leinsamenhandel und den Speditionsbetrieb bei. Als Antwort auf die Gründung des Zollvereins richteten mehrere Bremer Fabrikanten im Januar 1834 Filialen in Minden ein, "wodurch die niederen Stände lohnende Arbeit erhielten".

Pioniere der 40er Jahre waren Georg Meyer in Bünde ( 1842), Wilhelm Böckelmann in Herford ( 1842/43), der Kaufmann Güse in Vlotho (1843) und Tönies Wellensiek in Ennigloh (1843). Wellensiek hatte in Bremen das Zigarrenmachen gelernt und hier später mit einem Kompagnon auf eigene Rechnung Zigarren hergestellt. Das winzige Unternehmen ging bald wieder ein. Konkurrenten, Arbeitslöhne und der preußische Einfuhrzoll zwangen die finanzschwachen Unternehmer zur Aufgabe. Mit 70 Pfund Tabak auf dem Rücken kehrte Wellensiek nach Westfalen zurück, um daheim sein Glück zu versuchen.

Die Wellensiekschen Zigarren fanden ihre Käufer. 1846 verlagerte der junge Fabrikant seinen Betrieb nach Bünde. Hier hatte er ein kleines Fachwerkhaus bezogen - sehr zum Leidwesen der Stadtväter, die ihm zunächst den Zuzug verwehrten. Denn Zigarrenmacher galten als "sangeslustige, festfrohe Gesellen, die immer einen Grund fanden, ihre durch Tabakstaub getrocknete Kehle alkoholisch anzufeuchten". In Bremen "sagte man von denen, die Blauen Montag feierten, sie hätten Zigarrenmacher-Sonntag gefeiert". Mit diesem Proletariat wollte man in Bünde nichts zu tun haben und propagierte die Herstellung von Artikeln aus Stroh wie Hüten und Matten.

Dabei hatte sich das neue Gewerbe mittlerweile fest etabliert. In Minden, Vlotho und Petershagen arbeiteten 1849 886 Zigarrenmacher in 28 Betrieben. 1851 ließ sich die Osnabrücker Firma Andre in Bünde nieder. Zur Wahl hatte auch Enger gestanden. Die Gebrüder Andre entschieden sich für Bünde, als sie einen Gottesdienst in Enger besucht hatten. Die Kirchenbesucher waren ihnen zu gut gekleidet. Die Armut gab den Ausschlag für Bünde.

Das Beispiel zeigt, daß sich die Standortwahl der Zigarrenindustrie aus ihrer starken Arbeitsorientierung erklären läßt. Abgesehen von den ersten Fabrikgründungen ist es für ganz Deutschland gültig: Die Zigarrenindustrie siedelte sich überall dort an, wo genügend und vor allem billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Wenn diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben waren, setzte eine Wanderbewegung ein. Sie führte von den Zentren in Regionen, wo ein alteingesessenes Gewerbe daniederlag und schließlich aufs "flache Land".

Die erste große Standortverschiebung der deutschen Zigarrenindustrie hatte jedoch vor allem zollpolitische Gründe. Sie fand in den Jahren 1852 - 54 statt und traf die Zentren Hamburg und Bremen empfindlich. Am 1. Januar 1854 traten nämlich, wie im sog. Septembervertrag von 1851 geregelt, die Staaten Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe dem Zollverein bei. Bedingung für den Anschluß war, daß der Zoll für Rohtabak von 6 auf 4 Taler je Zentner gesenkt, der für Importzigarren aber von 8 auf 20 Taler pro Zentner angehoben wurde. Die hanseatischen Fabrikanten verloren somit ihren wichtigsten Markt und waren gezwungen, ihre Produktion bis auf die der teuersten Sorten in das Zollinland zu verlegen 2). Dabei sparten sie Westfalen zunächst aus. "Diese günstigen Bedingungen wurden von der westfälischen Industrie auf das Kräftigste ausgenutzt, um ihren Absatz auf ganz Deutschland auszudehnen". 1861 schrieb der Herforder Landrat: "Einen besonderen Aufschwung haben im Kreise die Zigarrenfabriken genommen, welche namentlich in Bünde und Vlotho bedeutend sind und mit den auf den Dörfern eingerichteten Filialfabriken viele hundert Arbeiter mit gutem Verdienst beschäftigen".

Die Zigarrenherstellung war damals reine Handarbeit. Gearbeitet wurde anfangs in der Stadt, am Sitz der Firma. Als die Arbeitskräfte knapp wurden, gründeten die Fabrikanten Filialen auf dem Lande (Vlothoer Filialen ab 1850, Blinder Filialen z. Hälfte der 50er Jahre, Bremer Filialen 60er Jahre 3 )), in Vlotho wurde auch Heimarbeit vergeben (2. Hälfte 50er Jahre, ab 1861 belegt). Die tägliche Arbeitszeit betrug 12 - l 4 Stunden. "Gute" Zigarrenmacher verdienten "gut" - 5 - 6 Taler in der Woche ( 1857 Vlotho). Manche hielten sich einen Wickelmacher oder beschäftigten Ehefrau und Kinder als Zuarbeiter, wenn es sein mußte auch nach Fabrikschluß zu Hause. Einige waren schon organisiert, in der 1848 Zur "Förderung des sittlichen und materiellen Wohls der

Anmerkungen

2) Die Hamburger verlagerten ins dänische Altona (Zollprivilegien), ab 1853 verstärkt nach Ottensen . Sie unterhielten aber auch schon Filialen im Zollinland (Wittenberge 1834) und im Gebiet des Steuervereins (Harburg 1836). Die Bremer gründeten vor den Toren ihrer Stadt, im Königreich Hannover, Filialfabriken, so in Achim, Verden, Heurelingen und Scharmbeck, und fabrizierten zu Hause nur noch die teuersten Zigarren.

3) Georg Meyer, 1838 in Bremen gegründet, seit 1866 in Löhne. Engelhardt & Biermann, Bremen 1857, I 867 Spenge, 1867 Bünde.

 

Cigarrenarbeiter" gegründeten ersten Gewerkschaft, der "Association der Cigarrenarbeiter in Deutschland".

1862 wurden in Bünde 80 Millionen Zigarren hergestellt. Sie hatten einen Wert von 800.000 Talern. Das war eine Verdoppelung der Produktion in 4 Jahren. Obwohl der Export in die USA 1862 wegen einer Zollerhöhung so gut wie aufhörte, wuchs die Industrie weiter. 1864 beschäftigten die Blinder Fabrikanten 1.000 Arbeiter in Bünde selbst und 2.000 Arbeiter in den Filialen der Nachbarschaft. Es wurden 100 Millionen Zigarren im Wert von 1 Million Talern bei einer Lohnsumme von 250.000 Talern hergestellt. Die Löhne betrugen 1 1/2 bis 3 1/2 Taler je Mille. Die billigste Zigarre kostete 4 Pfennig.

Das Jahr 1867 brachte eine technische Neuerung, die Wickelform. Sie ermöglichte die Herstellung einer "eleganten und gleichmäßigen Ware" sowie größere Stückzahlen. Während Wickelmacher und Roller früher 1.800 Zigarren in der Woche hergestellt hatten, waren es jetzt 2.500 Zigarren wöchentlich.

Im Kriegsjahr 1871 war die Nachfrage kaum zu befriedigen. Der Boom hielt bis 1873 an. "Der Soldat verlangte seinen Tabak und der Bürger seine Siegeszigarre" hieß es.

Im Handelskammerbezirk Minden wurde Ware von 4 Millionen Talern hergestellt. "Es kommen davon auf Bünde 2.000.000 Taler und auf Vlotho 800.000 Taler. Der verbleibende Rest von 1.200.000 Taler verteilt sich auf Minden mit Umgebung (Petershagen, Hausberge, Rehme) und auf Lübbecke, wobei jedoch zu bemerken ist, daß Bünde mehrere Commissions-Fabriken im Kreise Lübbecke beschäftigt" (HKB Minden 1872).

Die Prosperität endete in der sog. Gründerkrise und schlug 1879 in eine beinahe 10 Jahre währende Depression um. Das "Zolltarifgesetz" vom 16.07. hob nämlich den Zollsatz für Rohtabak von 24 auf 85 Mark je Doppelzentner (dz.) an. Fast 1/3 aller Herstellungsbetriebe ging ein, und 1.964 Zigarrenmacher (28,6 % : etwa jeder 4. j waren arbeitslos. Die anderen mußten kurzarbeiten. In einem Schreiben des Herforder Landrats Rudolf v. Bonries an die Bezirksregierung heißt es: "Die Arbeiter durften nur wenig Zigarren fertigstellen; ihre Einnahme sank derart, daß die Familien nicht davon leben konnten; in manchen Häusern herrschte schwere Not, so daß die Leute kein Brot im Hause hatten und von Kartoffeln leben mußten". Die Zahl der Auswanderer stieg sprunghaft an. Die Fabrikation der billigen Sorten (3 - 4 Pfennig) ging an die süddeutsche Industrie verloren, die ausschließlich Tabak verarbeitete, der vor ihrer Tür wuchs. Hierzulande wurden dagegen nur Überseetabake verarbeitet (Ambalema, Carmen/Kolumbien, Seedleaf/USA, Domingo/Haiti, Havanna/Kuba, Manila/Philippinen, Java und Sumatra - die 3 letzten Provenienzen seit Beginn der 70er Jahre).

In der Folgezeit beunruhigte die Reichsregierung die Zigarrenindustrie mit immer neuen Steuerplänen. Trotz des hohen Verbrauchs war nämlich die Belastung im Vergleich zu den europäischen Nachbarn gering. Kanzler Bismarck favorisierte das Monopol und legte dem Reichstag 1882 ein entsprechendes Gesetz vor. Es entfesselte einen Sturm der Entrüstung unter Fabrikanten wie Arbeitern. Als der Landwirtschaftsminister Bünde besuchte; ärgerte er sich über die Plakate an den Häusern: "Blinder Zigarrenindustrie. Gott schütze uns vor dem Monopol". Die Monopolvorlage der Regierung wurde jedoch ebenso abgelehnt wie 2 Vorlagen zur Fabrikatsteuer in den Jahren 1893 und 1895, die zu Krisen mit Kurzarbeit und Entlassungen geführt hatten. Danach setzte ein mit den 60er Jahren vergleichbarer Boom ein, der bis 1905 anhielt. In dieser Phase wurde die Heimarbeit zur vorherrschenden Produktionsform der Blinder Zigarrenindustrie.

Auslöser der erneuten Dezentralisierung waren die Erlasse des Bundesrates aus den Jahren 1888 und 1893 zur Einrichtung und zum Betrieb von Tabakfabriken sowie das Beschäftigungsverbot von Kindern aus dem Jahre 1891. Außerdem wurde die Arbeitszeit von Frauen in Fabriken auf 11 Stunden pro Tag begrenzt. Die Herstellung durfte nur noch in Räumen von 3 m Höhe und einem Luftraum von 7 m3 je Person erfolgen. Die meisten Filialen genügten diesen Anforderungen nicht. Vor 1891 "konnten die Kinder ihren Vätern, welche in der Cigarrenfabrik beschäftigt waren, durch Abstruppen des Tabaks usw. einen guten Verdienst zuführen", heißt es in einem Jahresbericht der HK Minden ( 1898). 1891 waren in Westfalens Zigarrenindustrie 1.496 Kinder und 1.455 Jugendliche beschäftigt.

Die Filialen wurden zur Ausgabestelle von Tabak und zum Sammelplatz der hausgemachten Zigarren. "Soweit Filialfabriken noch vorhanden sind, vermerkt die HK 1898, "finden wir in ihnen Roller und Jugendliche, die angelernt werden. Nach ihrer Verheiratung verlassen die Arbeiter zumeist die Fabrik, um zu Hause mit ihren Familienangehörigen zur Erzielung eines höheren Verdienstes zusammenarbeiten zu können".

Die Heimarbeit kam den Fabrikanten entgegen, trotz der wiederholt beklagten fehlenden Kontrollmöglichkeit (Umbau- und Energiekosten wurden eingespart}. Sie wurde auch von den Arbeitern begrüßt; zu Hause entfielen die Arbeitsregeln der Filiale, Frau und Kinder konnten mithelfen, der eigene oder gepachtete Acker wurde bestellt, wenn es "paßte". 1901 waren von 18.121 Zigarrenmachern in den Kreisen Herford, Minden und Lübbecke 8.078 Heimarbeiter. Etwa 40 % der Heimarbeiter waren Frauen.

"Ein großer Teil der Arbeiter wohnt auf eigener Scholle", schreibt ein Chronist im Jahre 1903. Der Familienlohn ermöglichte oft den Bau eines Häuschens mit einem Stück Land für Kartoffeln und Gemüse. Im Stallanbau hielt man ein paar Schweine und Hühner. Eine Ziege lieferte die Milch für den Haushalt. Ein Haus kostete etwa 3.000 Mark, der Bauplatz zwischen 1.000 und 1.500 Mark (Spenge). 1894 gehörten im Kreis Herford (ohne Herford und Umgebung, Bünde, Amt Vlotho) 1.636 von 4.476 Wohnhäusern Zigarrenmachern. Die Bautätigkeit führte vor allem im Bereich der ehemaligen Marken zu einer nicht-bäuerlichen Streusiedlung.

Wie "dreckig" es aber einer Heuerlingsfamilie gehen konnte, zeigt ein Bericht aus Blasheim vom 12. Dezember 1893: "Die besseren Wohnungen bestehen aus einem Wohnraum und zwei Schlafräumen; die billigeren aus einem Wohn- und einem Schlafraum. Gekocht wird im Sommer auf dem Flur, hier Diele genannt, an welcher sich zugleich die Schweine- und Ziegenställe befinden und wo, wenn das Haus von zwei Miethern bewohnt wird, was meistens der Fall ist, sich auf jeder Vorderecke eine Feuerstelle befindet. Im Winter wird in der Wohnstube gekocht ... Miethe zahlen wir jährlich 10 - 90 Mark. Die Miether billiger Wohnungen sind verpflichtet, in der Roggen-, Weizen-, Heu- und Kartoffelernte bei ihrem Wirth mit Mann und Frau zu helfen, und zwar für eine tägliche Entschädigung von 25 Pfennige der Mann und 15 Pfennige die Frau, und beide Kost. Bei der ganz billigen Miethe von 10 - 15 Mark das Jahr ist der Bauer zu jeder Jahreszeit berechtigt, für obigen Lohn Hilfe zu verlangen". Daß diese Heuerlinge die Schinken ihrer Schweine verkauften und die Eier beim Krämer gegen "Kolonialwaren" eintauschten, verwundert nicht. -Ähnlich hat Gustav v. Bodelschwingh 1908 in einem Vortrag berichtet.

Das 20. Jahrhundert brachte neue Aufregungen. Ein kapitalkräftiger Tabaktrust, die British American Tobacco Company, bedrängte auch die Zigarrenindustrie. 1905 drohte eine höhere Besteuerung des Rohtabaks. HK, Fabrikanten und Kommunen wandten sich in Denkschriften gegen die Pläne der Reichsregierung. Die Kampagne hatte Erfolg; es wurde eine Banderolensteuer für Zigaretten eingeführt ( 1906)! Das Tabaksteuergesetz von 1909 konnte jedoch nicht verhindert werden. Auf Importtabak wurde unter Beibehaltung des Gewichtszolls von 85 Mark je dz ein Wertzollzuschlag in Höhe von 40 % des Fakturenwertes erhoben. Arbeitseinschränkungen, Entlassungen, Stillegungen und Standortverschiebungen waren de Folge.· Damals überholte die Zigarette die Zigarre im Prokopfverbrauch ( 1911: 150 zu 127 Stück). Lohnforderungen eskalierten 191 i in einen Streik, der zur Aussperrung von 10.000 Arbeitern führte und erst nach 3 Monaten mit mäßigen Lohnerhöhungen beendet werden konnte.

Der l . Weltkrieg begann mit einer Hochkonjunktur, dank der Aufträge von Heer und Marine. Sie hielt bis 1916 an, zumal die Reserven groß und die Importe anfangs nicht behindert waren. Allerdings wurde der Tabak wie alle Nahrungs- und Genußmittel bewirtschaftet. Die "Deutsche Zentrale für Kriegslieferungen von Tabakfabrikaten" mit Sitz in Minden verteilte die Aufträge, um die Versorgung sicherzustellen und eine Bevorzugung einzelner Unternehmen zu vermeiden. Als im August 1916 der Import von Zigarrentabak aussetzte, wurde die "Deutsche TabakEinkaufsgesellschaft mbH.." ("Detag"} gegründet. Sie sollte den Nachschub sichern, konnte aber die zunehmende Verknappung nicht verhindern. Der Rohtabak wurde kontingentiert und die den Kauf von Überseetabak erhielten und zunehmend auf deutschen Tabak zurückgreifen mußten. Im Frühjahr 1934 setzte die Bewirtschaftung des Tabaks ein, und im März 1935 kam es zur Kontingentierung der Fabrikation. Die Hersteller durften monatlich nur eine bestimmte, von einer Überwachungsstelle in Bremen freigegebene Menge Tabak verarbeiten. 1935 arbeiteten im Zollamtsbezirk Bünde 258 Betriebe, die 7.885 Fabrik- und 7.521 Heimarbeiter beschäftigten. Sie stellten 1.045.782.000 Zigarren und Zigarillos her.

Der 2. Weltkrieg bescherte den Rauchern die Raucherkarte mit halben Rationen für die Frauen (Aug. 1939), das Papierumblatt für Zigarillos und Zigarren der unteren Preislagen sowie Kriegszuschläge auf die Kleinverkaufspreise. Weil bald Arbeitskräfte fehlten, wurde das Maschinenverbot gelockert, die maschinell hergestellte Ware jedoch mit einer Abgabe zugunsten einer Lohnausgleichskasse belegt. Die Versorgung wurde immer knapper, die Kontingentierung zunehmend eingeengt, und mit dem Zusammenbruch des Reiches kam auch die Zigarrenindustrie zum Erliegen.

"Die deutsche Zigarrenindustrie hatte in der Nachkriegszeit einen schlechten Start". Es fehlte an geeigneten Rohtabaken, so daß es zu Qualitätsverschiebungen und - einbußen kam. Die Steuergesetzgebung lähmte den Absatz. Das Kontrollratgesetz von 1946 belastete die Zigarre mit einem Steuersatz von 90 % des Kleinverkaufspreises. "Es hat die Industrie 9 Jahre lang verfolgt". Der Vorkriegssteuersatz war erst nach 5 Tabaksteuerreformen erreicht. Daß diese nicht ohne Kampf und Depression abgingen, versteht sich von selbst.

Der schon 1931 verstärkt einsetzende Schrumpfungsprozeß begann 1949 nach beendeter Bewirtschaftung von neuem. Als Hauptursache der Konzentration ist die Verbrauchsumschichtung anzusehen, die sich in der Nachkriegszeit zugunsten der Zigarette vollzog. 1950 standen einem Prokopfverbrauch von 85 Zigarren 494 Zigaretten gegenüber. Auch in der Branche selbst kam es zu einer Konsumverschiebung von Kopfzigarren zu Zigarillos und Stumpen. Die Märkte in der Mitte und im Osten Deutschlands waren verloren.

Gestiegene Kosten durch Lohnerhöhungen und höhere Rohstoffpreise mußten durch innerbetriebliche Rationalisierungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Das 1950 gelockerte Maschinenverbot wurde von den Großbetrieben genutzt; Wickel- und Überrollmaschinen lieferten die feuchtmattierten, "uniformen" Markenprodukte ("Handelsgold", "Erntekrone") der Großen in Riesenmengen. Die Klein- und Mittelbetriebe verloren in den Jahren 1950 - 57 4/5 ihres Marktanteils an 10 Großbetriebe. In NW schrumpfte die Zahl der Betriebe von mehr als 800 auf 464 ( 1956).

Steuerermäßigungen und Betriebsbeihilfen konnten die Konzentration nicht verhindern. 1956 arbeiteten fast 3/4 aller Betriebe der Tabakindustrie mit Verlust. So gab denn der Gesetzgeber dem Drängen der Rauchtabak- und Zigarrenindustrie nach und erließ am 04.06.1956 die "Verordnung über einmalige zusätzliche Steuererleichterungen zur Bereinigung der Tabakindustrie". Ziel dieser sog. Liquidationsbeihilfe war es, die Bereinigung zu beschleunigen, um danach alle wettbewerbshemmenden Bestimmungen des Tabaksteuerrechts beseitigen zu können. Die Beihilfe sollte ein Anreiz zur schnellen Liquidierung sein, aber auch den Wechsel in einen anderen Wirtschaftszweig erleichtern. Daraufhin legten in der BRD 63 % aller Zigarrenhersteller ihren Betrieb still. Im Bereich des Hauptzollamtes Minden sank die Zahl der Zigarrenfabriken von 371 ( I 955) auf 147 ( I 957). Der Anteil der Kleinbetriebe ging von 80 % ( 1955) auf 55 % ( 1957) zurück.

1956 setzte eine wahre Mechanisierungswelle ein. Die führenden deutschen Hersteller Andre ( 1954: 4.186 Beschäftigte) und Blase ( I 954: 4.000 Beschäftigte) stellten die ersten Komplettmaschinen auf. Sie machten 650 Zigarren in der Stunde. Spezialmaschinen für die Zigarilloherstellung übertrafen die Leistung der Zigarrenmaschinen um ein Vielfaches (3.600/Std.). Noch schneller waren die sog: Strangmaschinen, die aber nur ein Umblatt aus Papier oder Tabakfolie (seit 1958) "annahmen". Das Maschinenverbot hatte sich von selbst erledigt. Es wurde am l.07.1958 aufgehoben, zumal Arbeitskräfte rar waren.

1956 wurden in der BR 4.601.000.000 Zigarren, Zigarillos und Stumpen hergestellt. Seitdem ist der Markt rückläufig (mit Ausnahme von 1964, 1977, 1983), zeitweise mehr als 10 % im Jahr. Das Zigarillo verdrängte die Zigarre ( 1960 1:5; 1973 1:1 ), der Stumpen wurde zur Rarität (Marktanteil 1961 31 %; 1971 8 %). Der Konzentrationsprozeß dauerte an. 1973 kontrollierten 13 Firmen 78 des Marktes. Die Herstellung kehrte in die Zentralen zurück. Die Zahl der Heimarbeiter nahm kontinuierlich ab; 1978 wurden in Minden-Ravensberg noch 418 gegenüber 6.649 im Jahre 1963 gezählt. Mit der Zahl der Betriebe fiel auch die der Beschäftigten - in Bünde von 8.502 (1958) auf 1.789 ( 1976).

1986 wurden auf dem bundesdeutschen Markt 1.289.000.000 Zigarillos, Zigarren und Stumpen abgesetzt. 73,5 % entfielen auf Zigarillos, 2,4 % auf Stumpen. 6 Hersteller hielten 80 % des Marktes. 15 - 16 % wurden importiert.

Der Konzentrationsprozeß setzte sich in den Jahren 1988 - 1991 verstärkt fort. 1988 kaufte die Schweizer Burger-Gruppe die Firmen Dannemann/Lübbecke und Ritmeester/Veenendaal, Prov. Utrecht. Im Oktober 1988 beteiligte sich die niederländische Zigarrenfabrik Elisabeth BasBoxtel, Nordbrabant, eine Tochter der schwedischen Svenska Tobacs AB, an Arnold Andre Bünde, während Andre eine Beteiligung an E. Bas erwarb. Ein Dreiviertel-Jahr später, im Sommer 1989, übernahm E. Bas den Hersteller Willem II/Valkenswaard, Nordbrabant. Damit wurde die "Ebas"Gruppe (E. Bas, A. Andre, Willem II) zum größten Zigarrenanbieter in Europa vor dem französischen Staatsmonopol "Seita". Weil sie sich auf dem schrumpfenden Markt keine Chancen mehr ausrechnete, gab die renommierte Blinder Zigarillofabrik Kessing & Thiele (80 Beschäftigte, Marktanteil etwa 2 %) Ende September 1989 auf. Anfang 1990 stieg die Burger-Gruppe mehrheitlich bei der Schwering & Hasse Cigarrenfabrik/Lügde ein, die wiederum mit Wirkung vom 1. April 1991 den Hersteller Rinn & Cloos/Heuchelheim bei Gießen erwarb.

1991 hielten 4 Anbieter 97 % des deutschen Marktes:
- "Ebas"-Gruppe 39
- Burger-Gruppe 37
- Villiger-Gruppe (Pfeffikon CH, Waldshut-Tiengen, Bünde) 14
- Douwe Egberts Agio/Moers 7

In den Kreisen Herford und Minden-Lübbecke arbeiten noch 6 Betriebe, davon 3 in Bünde:
- Arnold Andre, Bünde
- Dannemann Cigarrenfabrik, Lübbecke
- Landwehrmeier & Sohn, Rödinghausen-Bruchmühlen
- August Schuster, Bünde
- Villiger Söhne, Bünde
- H. Wörmann, Rödinghausen


Copyright  Dr. Pankoke, Bünde

Quelle: www.schustercigars.de


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